Wie wertvoll ist meine Briefmarke?
Silvana Grellmann25. Februar 2021 10:00 Zuletzt geändert: 24. Februar 2021 14:21
Kennen Sie das? Beim Frühlingsputz finden Sie ein verstaubtes Briefmarkenalbum. Es folgt: Kopfkino und die euphorische Vorstellung, dass ein extrem seltenes Exemplar dabei ist. Finanziert es mir die nächsten Ferien? Das wissen die Philatelieprofis Walter in Zürich. In der Welt der Briefmarken macht ihnen so schnell keiner was vor.
Die Post versorgt die Schweizer Bevölkerung mit Briefmarken. Wenn es aber um Bewertung und Schätzung von alten Briefmarken, Schiffs- und Flugpost sowie anderen Philateliestücken geht, kommen Experten zum Zug. Ingomar R. Walter ist einer davon. 1970 entschied sich der Zürcher Banker, sein Leben gänzlich der Philatelie zu widmen. Sein Geschäft an bester Passantenlage in Zürich läuft auch heute noch rund – obwohl SMS, Kommunikations-Apps und E-Mails einen Grossteil der Briefkorrespondenz abgelöst haben. Zusammen mit seinem Sohn und zwei Mitarbeitenden berät er seit rund 50 Jahren Philatelisten und Sammler aus der ganzen Welt. Wer meint, die Welt der Briefmarken sei verstaubt und langweilig, den belehrt ein Besuch im Laden von Walter Senior und Junior eines Besseren.
Bares für Rares
Schwere Tresorschränke und hohe Regale an den Wänden bergen Dutzende von Ordnern und Briefmarkenkataloge der «Philatelie Walter». Ingomar Walter nimmt ein dickes Buch aus der obersten Reihe und findet in wenigen Sekunden die richtige Seite. Dort ist die gesuchte bulgarische Briefmarke aus dem Jahr 1972 katalogisiert. Er hält sie neben das Abbild im Buch und erklärt: «Sehen Sie hier: ‹Bauer am Pflug› von P. Georgiev. Davon wurden zwei Millionen produziert, also eine sehr grosse Auflage. Diese Briefmarke hier hat also einen Wert von 30 Rappen . Jede Briefmarke ist irgendwo registriert. Im Katalog sieht man den Beschrieb, die Auflage und ihren heutigen Wert.» Ob eine Briefmarke wertvoll ist, hängt von unterschiedlichen Faktoren und ihrer Kombination ab: der Auflage, der heutigen Seltenheit, der Unversehrtheit der Zacken und – falls vorhanden – dem Stempel. «Wir kennen die Kataloge fast auswendig und damit praktisch jede Briefmarke weltweit», sagt der 50-jährige Cyrill Walter, der bei seinem Vater das KV mit Schwerpunkt Philatelie absolvierte. «So können wir relativ schnell einschätzen, welche Geldsumme auf dem Tresen liegt.» Grundsätzlich dürfe man sich aber nicht zu grosse Hoffnungen machen. Zum Beispiel, wenn man die eigenen Briefmarken googelt. «Nur ca. 3 Prozent aller alten Briefmarken sind über 50 Franken wert», sagt Walter Junior. In den frühen Anfängen seines Geschäfts hatte Ingomar R. Walter viele Briefmarken und andere Philatelieprodukte wie Schiffspost eingekauft. «Davon zehren wir noch heute», erklärt er die Beständigkeit seines Geschäfts. Täglich wird der Laden im Durchschnitt von 20 Kunden besucht.*
Männer von Welt
«Briefmarken werden in der heutigen Gesellschaft total unterschätzt», beginnt Cyrill Walter verheissungsvoll. Er fügt schmunzelnd an: «Wissen Sie, ich hatte damals meine heutige Ehefrau mit meinem Wissen über den Präsidenten von Peru, Alberto Fujimori, beeindruckt.» Und tatsächlich: Die beiden Herren erinnern eher an Historiker. Oder Kunstsammler. In fliessendem Englisch sprechen die beiden vertraut mit einem Besucher in Businesskleidung, der von draussen reinkommt. Jacob, ein Freund, der soeben aus der Türkei für eine Auktion in Zürich angereist ist, wirft den beiden gespielt vor, er habe sie letztes Wochenende an der Ausstellung in Monaco vermisst. Vater und Sohn entschuldigen sich, dieses Mal hatten sie andere Verpflichtungen. «Aber wissen Sie, Briefmarken animieren zum Reisen – wir haben überall auf der Welt Freunde und ich hätte nie so viel über Russland gelernt, würde ich mich nicht mit Philatelie befassen», schwärmt der 79-Jährige, der früher Weltpräsident der Briefmarkenhändler war. «In der heutigen Zeit ist es ein Hobby mit Sinn und Mehrwert», ergänzt er begeistert. «Man befasst sich mit Kultur, Geografie, Geschichte und Kunstwerken in Museen auf der ganzen Welt.» Zunehmend kämen gestresste junge Männer – Typ Banker – in ihren Laden, die das Briefmarkensammeln als Hobby beginnen möchten. Zur Entschleunigung.
Welche Briefmarken sich die beiden wünschten, wenn sie könnten? Für den 50-Jährigen ist es die «Blaue Mauritius». «Sie hat eine interessante Geschichte und ist eigentlich fehlerhaft». Auch der Vater hat eine klare Präferenz: «Natürlich die British Guiana aus dem Jahr 1850. Davon gibt es weltweit nur noch eine. Sie ist aktuell 9 Millionen wert», sagt Ingomar R. Walter. Ihren Entscheid, das Leben der Philatelie zu widmen, haben Vater und Sohn nie bereut: «Es gibt keinen Tag, an dem wir nicht etwas Neues lernen, und man weiss nie, was als Nächstes zur Tür reinkommt», schmunzelt Cyrill Walter.